Gutachten liegt vor – viel Kritik, aber auch viele offene Fragen
Leidenschaftlich und heftig wurde über zwei Jahre lang gestritten: Wie sinnvoll waren Maskenpflicht, Isolation, Lockdown, Impfung, Testung etc., um die Corona-Pandemie zu bekämpfen?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) plant bereits für den Herbst und Winter; viele Menschen fürchten, dass es wieder zu Einschränkungen kommen wird.
Bisher hat aber die FDP gebremst, denn sie wollte erst die Erkenntnisse aus einem Gutachten eines speziellen Sachverständigenausschusses abwarten. Auf dieser Grundlage sollen nun die nächsten Schritte und ihre Verhältnismäßigkeit (z.B. Gesundheitsschutz vs. Grundrechte) abgeleitet werden.
Am Freitag, 1. Juli, haben die Expertinnen und Experten (u.a. der bekannte Virologe Prof. Dr. Hendrik Streeck) ihr Gutachten nun vorgestellt.
Wir haben die entscheidenden Passagen einmal zusammengestellt – und interpretiert und kommentiert.
Achtung: Es wird sehr ausführlich; aber das ist wahrscheinlich auch notwendig.
Lockdown: Anfangs effektiv, später weniger Akzeptanz
Zitat: Aufgrund der biologischen und physikalischen Plausibilität gibt es keinen Zweifel, dass generell die Reduktion enger physischer Kontakte zur Reduktion von Infektionen führt. Gerade zu Beginn einer Pandemie ist es sinnvoll, die Übertragung in der Bevölkerung soweit es geht zu reduzieren, um das Gesundheitssystem auf die bevorstehende Krankenlast einzustellen und um, wenn möglich, den Ausbruch lokal zu begrenzen. Wenn erst wenige Menschen infiziert sind, wirken Lockdown-Maßnahmen deutlich stärker.
Je länger ein Lockdown dauert und je weniger Menschen bereit sind, die Maßnahme mitzutragen, desto geringer ist der Effekt und umso schwerer wiegen die nicht-intendierten Folgen. Die Wirksamkeit eines Lockdowns ist also in der frühen Phase des Containments am effektivsten, verliert aber den Effekt wiederum schnell.
Heißt also: Je länger ein Lockdown läuft, desto weniger Menschen haben Verständnis für die Maßnahme.
Doch was lässt sich daraus jetzt für die Zukunft ableiten? Das sagen die Experten nicht.
Kontaktnachverfolgung: Mehr Digitalisierung in Gesundheitsämtern
Auch die Kontaktnachverfolgung ist in der Frühpause der Pandemie wirksam. [Aber:] Neben dem durchaus Jahre angereicherten Erfahrungswissen der Gesundheitsämter sollte dringend erforscht werden, unter welchen Prämissen (unter anderem Erreger-Generationszeit, Testqualität, Zeitpunkt der Infektiosität vor oder nach Symptomen, Nachverfolgbarkeit) der Nutzen der Kontaktpersonennachverfolgung (KPN) im Vergleich zum Anraten des „Zuhausebleibens“ bei Symptomen überwiegt. Zudem ist eine bessere Digitalisierung der Infektionserfassung mit bundesweit einheitlichen Systemen in Zukunft unabdingbar.
Heißt also: Man weiß also nicht wirklich, was die Kontaktnachverfolgung wirklich bringt. Und dass die Gesundheitsämter nicht immer und überall technisch auf dem neuesten Stand waren oder immer noch sind (veraltete Software, faxen etc.), hat sich ja seit Ausbruch der Pandemie bemerkbar gemacht. Dass die Digitalisierung daher voran getrieben werden muss, dürfte der Politik auch inzwischen klar sein.
Was bedeutet das jetzt? Auch hier belässt es das Expertengremium bei der reinen Bestandsanalyse ohne konkrete Empfehlungen und Handlungsvorgaben.
2G und 3G: Besser testen statt impfen?
Der Effekt von 2G- und 3G-Maßnahmen ist bei den derzeitigen (und betrachteten) Varianten in den ersten Wochen nach der Boosterimpfung oder der Genesung hoch. Der Schutz vor einer Infektion lässt mit der Zeit jedoch deutlich nach. Außerhalb der Phase des Containments ist das Beurteilen des Effekts von 2G und 3G mit Schwierigkeiten und Unsicherheiten verbunden. Ist man aufgrund eines hohen Infektionsgeschehens und einer (drohenden) Überlastung des Gesundheitswesens gezwungen, Zugangsbeschränkungen einzuführen, so ist bei den derzeitigen Varianten und Impfstoffen eine Testung unabhängig vom Impfstatus als Zugangsbedingung zunächst zu empfehlen.
In Anbetracht der leichten Übertragbarkeit von SARS-CoV-2 in der derzeitig vorherrschenden OmikronVariante bei Geimpften sowie der Impf- und Genesungsquote ist allerdings begleitend zu erforschen, wie gut eine Eindämmung über Testung funktionieren kann.
Heißt also: Wenn der Impfschutz kurze Zeit nach der Impfung nachlässt, lässt es sich nicht genau bestimmen, wie wirksam die Impfung dauerhaft ist. Wie wir inzwischen wissen, schützt die Impfung nicht vor einer Infektion, im besten Falle aber vor einem schweren Krankheitsverlauf oder gar einer Einweisung auf die Intensivstation, wenn man sich angesteckt hat. Alleine das wäre ein guter Grund für die Impfung (wobei man sich bei Unsicherheit vorher an kompetenter Stelle erkundigen sollte, ob nicht doch im individuellen Falle Impfschäden drohen könnten).
Besser wäre es also, sich beispielsweise vor Veranstaltungen mit vielen Menschen zu testen – egal ob geimpft oder nicht-geimpft (Vorausgesetzt: der Test wurde vernünftig und zuverlässig durchgeführt).
Da stellt sich natürlich die Frage: Wie sinnvoll ist es dann, jetzt die Bürgertests anteilig kostenpflichtig zu machen, was die Menschen davon abhalten dürfte, sich beispielsweise vor einer Veranstaltung sicherheitshalber zu testen…?
Waren Schulschließungen wirklich notwendig?
Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des
Coronavirus ist trotz biologischer Plausibilität und zahlreicher Studien weiterhin offen, auch, weil im schulischen Bereich eine Reihe von Maßnahmen gleichzeitig eingesetzt wurden und damit der Effekt von Einzelmaßnahmen nicht evaluiert werden kann.
Die deutlichen wissenschaftlichen Beobachtungen und Studien zu nicht-intendierten Wirkungen sind wiederum nicht von der Hand zu weisen. Da Kinder durch Schulschließungen besonders betroffen sind, sollte eine Expertenkommission die nicht-intendierten Auswirkungen dieser Maßnahme unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls genauer evaluieren.
Heißt also: Man weiß nicht, wie sich Schulschließungen auf das Infektionsgeschehen ausgewirkt haben. Da waren die Erwartungen an das Gremium wohl zu hoch.
Was man aber weiß: Die psychischen und sozialen Folgen für die Kinder und Jugendlichen waren und sind verheerend. Das dürften die meisten Eltern wohl bestätigen – auch ohne wissenschaftliche Expertise.
Die Experten sagen daher an späterer Stelle: „Studien für Deutschland und weitere Länder belegen, dass die Pandemie erhebliche psychosoziale Auswirkungen insbesondere auf Frauen und jüngere Menschen hatte. Zukünftig sollten ausreichende, flexibel anpassbare und präventiv ansetzende Maßnahmen sowie persönliche und digitale therapeutische Angebote in psychischen Krisen und für psychisch erkrankte Menschen als integrale Bestandteile des Krisenmanagements unter Pandemiebedingungen sichergestellt werden. Außerdem muss ein Mindestmaß an sozialen Kontakten auch zu engen Bezugspersonen gewährleistet bleiben.“
Wie das aber gehen soll, wenn gleichzeitig die „Übertragung in der Bevölkerung soweit es geht reduziert“ (s.o.) werden soll, das können die Mitglieder des Sachverständigenrates auch nicht sagen.
Masken und Maskenpflicht sind ein wirksames Instrument
Die Kombination von epidemiologischen Erkenntnissen und tierexperimenteller Bestätigung lässt die Schlussfolgerung zu, dass das Tragen von Masken ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung sein kann. Eine schlechtsitzende und nicht enganliegende Maske hat jedoch einen verminderten bis keinen Effekt. Die Effektivität hängt daher vom Träger oder der Trägerin ab.
Deshalb sollte zukünftig in der öffentlichen Aufklärung und Risikokommunikation ein starker Schwerpunkt auf das richtige und konsequente Tragen von Masken gelegt werden.
Heißt also: Eine Schutzmaske – sofern sie auch korrekt angewendet wird – ist in der Tat ein effektives Mittel, um Infektionen zu vermeiden (auch wenn das bestimmt einige Menschen nicht wirklich hören wollen). Es ist außerdem eine einfache und zumutbare Maßnahme – außer vielleicht, wenn man sie einen ganzen Tag lang tragen muss; da könnte die Akzeptanz wieder schwinden.
Es kann also passieren, dass für den kommenden Herbst und Winter beispielsweise eine Maskenpflicht in Innenräumen angeordnet wird.
Rechtlichtsgrundlage: Hoher Reformbedarf
Für das Infektionsschutzgesetz (IfSG) als Rechtsgrundlage der Pandemiebekämpfung besteht erheblicher Reformbedarf. So stellt die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG) eine juristisch fragwürdige Konstruktion dar.
Gemeint ist damit aber nicht, dass die Maßnahmen grundsätzlich juristisch gesetzwidrig seien:
Die mit §5 Abs. 2 IfSG vorgenommene Verlagerung wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf die Exekutive wird im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ganz überwiegend für verfassungswidrig gehalten.
Soll heißen: Nicht die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, Bundeskanzlerin, bzw. -kanzler können einfach so Maßnahmen beschließen (wie in den berühmten Ministerpräsidentenkonferenzen), sondern die Parlamente hätten mehr bestimmen sollen. Das hatten viele Juristinnen und Juristen bereits moniert.
Die Frage ist dann allerdings: Hätte das etwas an den Maßnahmen geändert? Hätten die Parlamente anders entschieden?
Weiter heißt es:
Auch die Regelungen zu den Schutzmaßnahmen (§§28-32, 36 IfSG) sollten von der Feststellung nach§5Abs. 1 IfSG entkoppelt und dafür mit Eingriffsschwellen verknüpft werden: Die gesetzlichen Tatbestände müssen die betroffenen Grundrechte abbilden und abhängig von der Intensität der Betroffenheit differenzierte Anforderungen an Schutzmaßnahmen stellen. Dazu sind die einzelnen Maßnahmen mit den entsprechenden Voraussetzungen zu verknüpfen. Um für die nächste Pandemie gewappnet zu sein, sollten Befugnisnormen geschaffen werden, die nicht nur auf SARS-CoV-2 zugeschnitten sind, sondern für alle Krankheitserreger gelten. Auf häufige Änderungen des Rechtsrahmens sollte verzichtet werden. Es wird empfohlen, hinreichend konkrete bundesgesetzliche Regelungen zu beschließen und deren Konkretisierung durch Rechtsverordnungen (Art. 80 Grundgesetz) und Allgemeinverfügungen den Ländern zu überlassen.
Heißt also: Die Sachverständigen kritisieren offenbar viele Maßnahmen, sagen aber nicht konkret, welche das sind und wieso. Und was sollte man nun anders oder besser machen? Auch da bleiben die Experten eher vage.
Das war aber noch lange nicht alles:
Das komplette Gutachten gibt es hier zum nachlesen
Was also fangen wir jetzt mit den Erkenntnissen an?
Es sind einige interessante Punkte dabei. Und es wird auch nicht mit Kritik am Regierungshandeln in den letzten beiden Jahren gespart.
Trotzdem: die Ausführungen sind teilweise vage und lassen immer noch reichlich Interpretationsspielraum – zum Beispiel für Karl Lauterbach (SPD) und Marco Buschmann (FDP).
Auch auch bei der Pressekonferenz antworteten die Autorinnen und Autoren der Studie nicht immer sehr konkret auf nachhakende Fragen.
Wir sind also zum Teil nicht sehr viel schlauer geworden…
Bericht: Achim Kaemmerer
Foto: G. Altmann/Pixabay
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